NEUE STUDIE: Wer profitiert von der Ernährungskrise


Zusammenfassung
Die derzeitige Ernährungskrise, die mit rasant steigenden Energiepreisen einhergeht, hat sich für die europäische Bevölkerung als verheerend erwiesen. Im Widerspruch zum gängigen Narrativ der Lebensmittelknappheit, die hohe Preise zur Folge hat, führt dieser Bericht vor Augen, dass es sich bei der derzeitigen Krise um eine Preiskrise und nicht um eine Versorgungskrise handelt. Zu keinem Zeitpunkt während der jüngsten Preisspitzen auf dem Markt für Weizen – einem Grundnahrungsmittel, dessen Erzeugung durch den Krieg in der Ukraine stark beeinträchtigt wird –, war die weltweite Nachfrage größer als das weltweite Angebot. Dies soll nicht bedeuten, dass es keine lokale Lebensmittelknappheit gibt. Diese Knappheit ist jedoch eher auf einen Mangel an erschwinglichen, und nicht an verfügbaren Lebensmitteln zurückzuführen.
Der Anstieg der Preise für Weizen und andere Grundnahrungsmittel ist weitgehend durch Spekulationen bedingt. Der spekulative Handel auf dem Pariser Weizenderivatenmarkt, der als globaler Bezugsrahmen für die Bildung der Preise für europäisches Mahlgetreide von Spanien bis zum Schwarzen Meer fungiert, ist zwischen Anfang 2020 und Ende 2022 von 30 % auf 60 % des gesamten Handels angestiegen. Durch ungenutzte Barmittel infolge der Störungen während der COVID-19-Pandemie und der Unsicherheit in Bezug auf das künftige Weizenangebot aufgrund des Kriegsausbruchs in der Ukraine kam es an den Märkten für Lebensmittelderivate und insbesondere an den Weizenmärkten zu einem hochspekulativen Kapitalzufluss. Im Januar 2021 beliefen sich die spekulativen Positionen auf dem Pariser Weizenmarkt auf 36 Mio. EUR. Im Januar 2022 erhöhte sich dieser Betrag auf 58 Mio. EUR und im März 2022 weiter auf knapp über 1 Mrd. EUR.
Dieser Zufluss an spekulativem Kapital hat sowohl zum Preisanstieg beigetragen als auch hohe Gewinne für diejenigen eingefahren, die diese Positionen halten: Investmentbanken, Vermögensverwalter, Hedgefonds und in geringerem Umfang Pensions- und Versicherungsfonds. Einer groben Schätzung zufolge könnten sich die Spekulationsgewinne von Händlern auf dem Pariser Weizenmarkt zwischen Januar 2020 und Mai 2022 (zum Zeitpunkt des Preishochs) auf insgesamt rund 22 Mio. EUR belaufen.
Während die Verbraucher aufgrund der hohen, durch steigende Lebensmittel- und Kraftstoffpreise bedingten Inflation mit sinkenden Realeinkommen auskommen müssen, haben Großunternehmen in der Lebensmittelversorgungskette Rekordgewinne eingefahren. Die Erzielung hoher Gewinne in Krisenzeiten wurde durch eine Kombination aus der von Unternehmen gehaltenen Marktmacht und einer konzertierten Unternehmungsstrategie ermöglicht, bei der man sich auf das Narrativ der steigenden Kosten berief, um einen Anstieg der Verkaufspreise zu rechtfertigen. Die Verkaufspreise und damit die Einnahmen wurden um den gleichen prozentualen Wert erhöht wie sich auch die Kosten für diese Unternehmen erhöhten, was zu einem ebenso großen (prozentualen) Gewinnzuwachs für diese Unternehmen führte.
Am Beispiel von vier börsennotierten europäischen Unternehmen – Nestle SA, Danone SA, der K+S-Gruppe und Südzucker AG – sowie von zwei privaten Unternehmen – der Schwarz-Gruppe und Louis Dreyfus – wird in diesem Bericht aufgezeigt, wie diese Strategie, einen Anstieg der Kosten mit einem Anstieg der Einnahmen auszugleichen, in allen Segmenten der Lebensmittelkette, angefangen bei den landwirtschaftlichen Betriebsmitteln bis hin zum Einzelhandel, zu beobachten ist. Die außergewöhnlich hohen Gewinne wurden daher zulasten der Verbraucher erzielt, die Preise zahlen, die über den Betrag hinausgehen, der notwendig wäre, um die steigenden Produktionskosten auszugleichen.
Diese Gewinne werden bei börsennotierten Unternehmen über Dividendenausschüttungen und Aktienrückkäufe für die Finanzmärkte abgeschöpft. Wenn sich diese Unternehmen in Privatbesitz befinden, kommen Dividendenausschüttungen vermögenden Einzelpersonen oder einer kleinen Gruppe von Vermögenden zugute. Sowohl bei börsennotierten als auch bei nicht börsennotierten Unternehmen werden diese Gewinne zum Teil auch durch Zinszahlungen und Gebühren für Finanzdienstleistungen abgeschöpft. Bei den Hauptaktionären, denen Dividendenausschüttungen zugutekommen, handelt es sich um große Vermögensverwalter und Hedgefonds und immer öfter auch um institutionelle Anleger wie Staatsfonds, Versicherungsgesellschaften und Pensionsfonds. Geschäfts- und Investmentbanken profitieren darüber hinaus nicht nur als Aktionäre, sondern auch als Anbieter von Finanzdienstleistungen.
Anlageberater, Hedgefonds und Vermögensverwaltungsgesellschaften sind die bei Weitem größte Gruppe von Aktionären bei börsennotierten Lebensmittelunternehmen und somit auch die Hauptprofiteure der von diesen Unternehmen erzielten Rekordgewinne. Sie halten mindestens 80 % des Gesamtanteils an nicht beschränkten Aktien bei vier der größten Lebensmittel- und Getränkeherstellern: Nestle, Mondelez, Unilever und Coca-Cola. Allein im Jahr 2022 hat diese Gruppe von Finanzunternehmen 3,1 Mrd. EUR an Dividenden von den vier in diesem Bericht behandelten europäischen Unternehmen (Nestle SA, Danone SA, K+S-Gruppe und Südzucker AG) abgeschöpft. Die drei größten Vermögensverwaltungsgesellschaften – BlackRock, Vanguard Group und Fidelity Investments (allesamt mit Hauptsitz in den USA) – gehören zu den zehn größten Aktionären bei nahezu allen börsennotierten Lebensmittelunternehmen. Dieses Muster tritt auch bei den vier börsennotierten Unternehmen, die in diesem Bericht ausführlich untersucht werden, auf; eine Ausnahme bildet die Südzucker AG, die mehrheitlich von ihren Genossenschaften gehalten wird.
Nestle beispielsweise zahlte im Jahr 2022 insgesamt 19,3 Mrd. Schweizer Franken (20,1 Mrd. EUR) über Dividendenzahlungen, Zinszahlungen und Aktienrückkäufe an Aktionäre aus, was die in dem Jahr erzielten Gewinne um 3,6 Mrd. Schweizer Franken (3,75 Mrd. EUR) übertraf. BlackRock schöpfte allein von Nestle Dividendenzahlungen in Höhe von rund 536,8 Mio. EUR und Vanguard in Höhe von 243,8 Mio. EUR ab. Insbesondere durch die Auszahlung von Gewinnen an die Finanzmärkte erscheinen die Einkommensteuerzahlungen kaum der Rede wert. Die von Nestle im Jahr 2023 entrichtete Einkommensteuer belief sich auf 2,73 Mrd. Schweizer Franken (2,86 Mrd. EUR) und damit auf knapp über 14 % der Auszahlungen, die insgesamt im selben Jahr an die Finanzmärkte geflossen sind.
Das Ausmaß der Konzentration an horizontalem Eigentum durch Aktienbesitz kann zu Negativanreizen beim Wettbewerb zwischen Unternehmen führen, die im selben Segment oder innerhalb derselben Lebensmittelkette angesiedelt sind; des Weiteren werden Unternehmensstrategien erleichtert und begünstigt, die Krisenzeiten zum Nachteil der Verbraucher und in vielen Fällen auch der Landwirte ausnutzen, deren Macht im Zusammenhang mit der Preisfestlegung geringer ausfällt als diejenige von multinationalen Großunternehmen, die von ihnen Inputs beziehen. Dieselbe Gruppe von Finanzunternehmen – Vermögensverwalter, Investmentfonds und Investmentbanken – war auch der größte Profiteur des Preisanstiegs auf den Märkten für Lebensmittelderivate. Ihre Gewinnabschöpfung erfolgt somit zweigleisig, nämlich über ihre Gewinnansprüche bei Lebensmittelunternehmen und über spekulative Preisblasen auf den Märkten für Lebensmittelderivate.
Das Lebensmittelsystem, von dem wir abhängig sind, ist auf die Erzeugung und Abschöpfung von Erlösen ausgerichtet, die in den Finanzmarkt abfließen sollen. Die Lebensmittelpreise in Zeiten der Unsicherheit werden durch Finanzspekulationen diktiert, die denselben Finanzakteuren zugutekommen, die von Lebensmittelunternehmen Erlöse abschöpfen. Spekulative Blasen und die Preisvolatilität wiederum räumen einigen Unternehmen die Möglichkeit ein, mehr Erlöse zu erwirtschaften, wobei Verkaufspreiserhöhungen durch steigende Kosten gerechtfertigt werden, was eine sog. Verkäufer-Inflation zur Folge hat. Infolgedessen werden hochwertige und nährstoffreiche Lebensmittel für die Verbraucher europaweit immer schwerer erschwinglich, während die Arbeitnehmer (darunter landwirtschaftliche Arbeitnehmer und Beschäftigte von Lebensmittelunternehmen) mitansehen müssen, wie ihre Kaufkraft durch die anhaltend hohe Inflation schwindet.