Aus Corona lernen

Vier Jahre nach Beginn der Pandemie ist es Zeit das Marktversagen in Europa zu korrigieren.

Plötzlich stand die Welt still. Ende März 2020 wurden Schulen und Kindergärten geschlossen. Kurzarbeit und Homeoffice verordnet. Auf einmal waren die Straßen menschenleer, wie in einem Science Fiction-Film. Aber „Corona“ war kein Film. Covid-19 ist eine gefährliche Krankheit, der bis heute laut Angaben der WHO weltweit über 15 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. Noch mehr sind durch die Folgen der Viruserkrankung gezeichnet. Doch es gab viele Beispiele beeindruckender Solidarität und gegenseitiger Hilfe. Plötzlich wurde klar, dass in tiefen Krisen eben nicht Banken systemrelevant sind. Existentiell wichtig sind die Menschen, die sich in Krankenhäusern, Schulen, bei der Feuerwehr oder der Müllabfuhr, in Familien und Nachbarschaften um unsere Bedürfnisse kümmern. Die Entwicklung eines Impfstoffs in Rekordzeit hat gezeigt, was wissenschaftlich bei entsprechender öffentlicher Förderung möglich ist. Die Aufnahme von Corona-Bonds und die Schaffung von Investitionsfonds haben deutlich gemacht, dass die EU in Krisen gemeinsam reagieren kann. Das hat vielen Menschen das Leben gerettet.

Aber die Corona-Pandemie hat auch schonungslos die Sollbruchstellen einer markthörigen Politik in Europa offengelegt. Während Unternehmer Milliarden machten, konnten Notfallkrankenhäuser vielerorts nicht betrieben werden, weil es nicht genügend Personal gab. Da Schutzkleidung fehlte und die Arbeitsbelastung schon lange viel zu hoch ist, infizierten sich Pfleger*innen und Ärzte. Während Schulen und Parks geschlossen wurden, musste in Schlachthäusern und Warenlagern, oft ohne den nötigen Schutz, weitergearbeitet werden. Während Millionen Menschen in Kurzarbeit mussten, wurden Konzerne wie die Lufthansa mit Milliarden gerettet – und schüttet dann trotzdem Geld an ihre Aktionäre aus. Und während überall Solidarität beschworen wurde, wurden selbst in der EU die Grenzen wieder hochgezogen und um Masken und Medikamente konkurriert. Der Markt hat in der Corona-Krise in der EU vielfach versagt. Das hat Menschenleben gekostet.

Natürlich: Trotz aller Notfallpläne war die Pandemie für unsere Gesellschaft eine neue Situation. Das da Fehler passieren, kann nicht verwundern und ist menschlich. Die schrecklichen Beispiele aus Italien, Brasilien und Indien, wo sich das Virus ungehindert verbreiten konnte und Hunderttausende starben, zeigen, dass Infektionsschutzmaßnahmen und Impfungen nötig waren. Aber zugleich ist nicht von der Hand zu weisen, dass es staatliche Überreaktionen und politische Fehler gab – die mit systemischen Mängeln und den Ungerechtigkeiten des Marktes zu tun haben.

Vier Jahre nach Beginn der Pandemie ist es Zeit Konsequenzen zu ziehen und das Marktversagen zu korrigieren um Europa pandemiefest zu machen. Angesichts der wachsenden Wahrscheinlichkeit neuer Pandemien ist es höchste Zeit. Es braucht jetzt Schritte zu einer Europäischen Gesundheitssouveränität. Credo sollte sein: gute Gesundheitsversorgung statt Abhängigkeit von Big Pharma, 2-Klassen-Medizin und Profitorientierung. Die beste Pandemievorsorge ist, das Gesundheitswesen bedarfsgerecht zu finanzieren und den Pflegenotstand zu beenden. Viel zu viel Geld fließt in Form von privaten Gewinnen aus dem Gesundheitssektor. Es braucht eine Investitionsoffensive gegen den Pflegenotstand. In Deutschland heißt das: 100 000 Pflegekräfte mehr in den Krankenhäusern, 100 000 Pflegekräfte mehr in den Pflegeheimen und 500 Euro mehr Grundgehalt. Die vielen Ausgebildeten, die den Beruf inzwischen verlassen haben, könnten mit attraktiveren Arbeitsbedingungen zurückgewonnen werden. Und nicht zuletzt braucht es endlich mehr Unterstützung für Betroffene von Long Covid und Post-Vac-Syndrom.

Eine Gesellschaft im Clinch mit sich selbst ist nicht gut darin Krisen gemeinsam zu meistern. Der Streit um den richtigen Umgang mit dem Notstand hat unsere Gesellschaft polarisiert, teilweise Familien und Freundeskreise gespalten. Der Auseinandersetzung zwischen Verschwörungstheorien auf der einen und Einschränkung der Demokratie auf der anderen Seite ist eine sachliche Auseinandersetzung oft zum Opfer gefallen. Teilweise ist es Rechten gelungen, aus der Entfremdung mancher Menschen von unserer Demokratie Kapital zu schlagen. Aber die gesellschaftliche Spaltung hat auch eine materielle Grundlage: Im Schnitt liegen die Reallöhne um fünf Prozent unter dem Niveau vor Corona. Währenddessen sind die Vermögen der Reichen explodiert. Das Vermögen der zehn reichsten Männer wuchs in der Pandemie auf 1,5 Billionen Dollar. Dagegen brauchen wir eine Steuerreform, die Konzerne stärker am Ort ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten besteuert. Zudem müssen außerordentliche Gewinne von Konzernen wie Amazon, die wegen der Coronakrise erzielt wurden, mit einer Übergewinnsteuer abgeschöpft werden, um die Marktmacht von Krisengewinnern zu begrenzen. Und wir müssen die Schuldenbremse, die eine Investitionsbremse ist, endlich überwinden. Der öffentliche Investitionsstau ist ohnehin riesig. Dazu kommt, was allein in den Schulen nötig wäre um diese pandemiefest zu machen: Kleinere Klassen und mehr Luftfilter für eine bessere Raumluft, um Schulschließungen in Zukunft möglichst zu vermeiden. Laut KfW-Kommunalpanel lag der Investitionsrückstand im Bereich Schulen schon 2021 bei über 45 Milliarden Euro.

Die Einschränkung von Bürgerrechten war schwerwiegend, nicht immer wurde die Verhältnismäßigkeit gewahrt. Teilweise gab es einen medialen Wettlauf um die krasseren Einschränkungen. Der Arbeitsschutz bei großen Konzernen wie Tönnies und Amazon wurde mangelhaft durchgesetzt, dafür wurden Menschen im Park und Familien auf Spielplätzen schikaniert. Kleinstaaterei, die dazu führte, dass in Ulm die Baumärkte geöffnet waren, während sie um Ulm geschlossen wurden, schaffte kein Vertrauen. Menschen mit niedrigen Einkommen und Familien in kleinen Wohnungen waren von der sozialen Schieflage beim Infektionsschutz besonders betroffen. Vor allem Kinder und Jugendliche wurden so belastet. Im Pandemiefall ist in Zukunft mehr Demokratie nötig: Es braucht Pandemie- und Gesundheitsräte, die europaweit die Zivilgesellschaft in Entwicklung und Umsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen einbeziehen. Ihre Sozialverträglichkeit muss ein entscheidendes Kriterium werden, auch um die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns zu wahren. Wie soziale Gesundheitspolitik in der Krise gehen kann hat die Impfstrategie in Bremen gezeigt.

Dass unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft international eine ungleiche Verteilung des Covid-19-Impfstoffs durchgesetzt wurde, bleibt ein historisches Versagen. Selbst jetzt noch sperrt sich die Ampel gegen Einschränkung der Eigentumsrechte der Konzerne. Die mit massiven öffentlichen Mitteln geförderte Forschungsergebnisse sollten zu sozialen Bedingungen an ärmere Länder und Generikaproduzenten abgegeben werden. Langfristig braucht es eine öffentlich finanzierte Impfstoff-Forschung mit öffentlichen Patenten, damit Impfstoffe zukünftig allen zur Verfügung stehen. Die Kosten dafür belaufen sich auf einen Bruchteil der Ausgaben für Aufrüstungsprojekte wie den Eurofighter. Die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung muss zudem als wichtige Gemeinwohlaufgabe der Mitgliedstaaten definiert wird. Dieser Gemeinwohlaufgabe muss im EU-Recht dringend Vorrang gegenüber dem freien Binnenmarkt eingeräumt werden. Die Hochpreisstrategie der Ampel führt dazu, dass ärmere Mitgliedsstaaten keine Medikamente mehr bekommen oder nur zu Preisen, die ihre Gesundheitssysteme überfordern. Hier gilt, was Corona insgesamt deutlich gemacht hat: Wenn der Markt es nicht regelt, müssen wir den Markt regeln.