Zukunftsfähige Erzählung

Bevor ich im November 2017 meine Arbeit im Europäischen Parlament aufgenommen habe, war ich seit dem Jahr 2015 als Büroleiter des Europabüros Brüssel der RLS tätig. Die in dieser Zeit geknüpften Bekanntschaften mit Genossinnen und Genossen aus anderen linken Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, aus denen auch einige gute Freundschaften erwachsen sind, die Arbeit an gemeinsamen Projekten und vor allem die vielen Diskussionen über die Organisation der Linken und die Entwicklung von wirksamer gesellschaftlicher Gegenmacht haben mich vieles gelehrt: Vor allem, dass die Linke nur dann erfolgreich sein wird, wenn sie in Einigkeit agiert.

»First we take Athens and then we take Berlin and Brussels« (»Zuerst übernehmen wir Athen, dann Berlin und Brüssel«): Das war der Traum der europäischen Linken im Sommer 2015. Der sich schnell zum Trauma entwickelte, das die gesamte europäische Linke ergriff.

Seitdem herrscht kollektives Rätselraten über den richtigen Kurs, den richtigen Umgang mit der Europäischen Integration. Während sich die europäische Sozialdemokratie bereits vor geraumer Zeit von ihrer historischen Mission verabschiedet hat und die europäische Rechte wie Phönix aus der Asche die europäischen Demokratien durcheinanderwürfelt, sucht die radikale Linke noch immer nach einer passenden Antwort auf fortgesetzten Neoliberalismus und voranschreitenden Rechtsruck.

Es erscheint derzeit wie die Quadratur des Kreises: Wie kann eine linke Partei die berechtigte Kritik an den EU-Institutionen und ihrer Politik so formulieren, dass sie dabei nicht ihren ursprünglichen und wesensprägenden internationalistischen Charakter aufgibt? Wie kann praktische Kritik an einem vermachteten Gebilde aussehen, in dem die Linke nur viel zu selten mal Land sieht und meistens nur kosmetische Änderungen an in der Grundrichtung falschen politischen Weganbahnungen durchsetzen kann? Und wie setzen wir diese Kritik ins Verhältnis zur allgemeingültigen Erkenntnis, dass viele politische Fragen nur international beantwortet werden können und müssen.

Das gilt nicht nur für die ökologische Frage, das gilt angesichts transnationaler Wertschöpfungsketten ebenso für gewerkschaftliche Arbeit, Organisation und Kämpfe. Das gilt nicht nur für die Friedensfrage, die immer eine internationale war und bleiben wird, das gilt ebenso für das Einhegen entfesselter Finanzmarktakteure, die in der Vergangenheit ganze Volkswirtschaften ruiniert haben. Und das gilt auch für die Durchsetzung verschiedenster Individual- und Gruppenrechte.

Neustart

Ja, wir brauchen einen Neustart für die EU. Soweit herrscht Einigkeit. Nur an der Erzählung zum Neustart hapert es noch. Manche in der europäischen Linken sehen ihn in Feuer und Flamme, im Zerschlagen des Bestehenden, im Austritt und nur schnell weg. Hier wird die Institutionenkritik betont. Andere sehen ihn in einer vertieften Integration, in der eine gründlich demokratisch reformierte Union Kompetenzen der nationalstaatlichen Ebene übernimmt und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten wahrnimmt. Hier wird der Aspekt der international notwendigen Zusammenarbeit starkgemacht.

Ich denke, um Wählerinnen und Wähler zu überzeugen, brauchen wir beides. Beide Aspekte müssen in einer linken zukunftsfähigen Erzählung von Europa eine gewichtige Rolle spielen. Es ist richtig, die Machtfülle der Europäischen Kommission scharf zu kritisieren, das bestehende Mandat und die gegenwärtige Politik der EZB kritisch zu verurteilen, die Eurogruppe für die Durchsetzung der Spar- und Kürzungspolitik auf Kosten der Staaten und Bevölkerungen anzugreifen. Es ist richtig, dass die europäischen Verträge einen Zeitgeist widerspiegeln, nach dem es politisch en vogue war, dem Markt alles — inklusive dem zu verscherbelnden öffentlichen Eigentum und der Daseinsvorsorge — zu überantworten. Deswegen lag und liegt der Fokus europäischer Politik viel zu häufig auf dem Marktgeschehen und der Kapitalfreiheit.

Auch linke Politik vertritt Interessen und dient deren Durchsetzung. Linke EU-Kritik ist deshalb nicht in erster Linie verkürzt oder populistisch. Sie ist richtig und notwendig, weil sie auf politischen Gegebenheiten basiert, die von den Menschen auch so wahrgenommen werden. Aber die bislang nur hinreichend erfüllte Kunst besteht darin, die notwendige Kritik nicht nationalistisch wie die europäische Rechte, sondern internationalistisch und deshalb proeuropäisch zu äußern. Im Sinne von Solidarität mit dem niederländischen Siemens-Arbeiter, dessen Arbeitsplatz geschlossen werden soll, im Sinne der spanischen Coca-Cola-Arbeiterin, deren Arbeitsplatz in Fuenlabrada bereits geschlossen worden ist und die um dessen Erhalt kämpft und seit drei Jahren streikt. Im Sinne der Frauen in Polen, Irland, Spanien, die einen fürchterlichen politischen Rollback erleiden müssen und sich einem Kulturkampf um ihre gesellschaftliche Position ausgesetzt sehen. Im Sinne der von Energiearmut Betroffenen, der arbeitslosen Jugendlichen ohne Perspektive, der von Altersarmut bedrohten Älteren, kurz: im Sinne all derer, für die die kapitalistische Gesellschaft zum alltäglichen Überlebenskampf geworden ist.

Es ist immer wieder notwendig, den Blick — auch den eigenen — dafür zu schärfen, für wen DIE LINKE und die europäische Linke Politik machen auf den unterschiedlichsten Ebenen der Politikgestaltung. Das gilt für mich ebenso wie für die Coca-Cola-Arbeiterin, die übrigens gleichzeitig für ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung streitet, wie für den akademisch gebildeten Mann, der in der sogenannten Kreativwirtschaft so beschissen bezahlt wird, dass er nicht weiß, wie er diesen und nächsten und übernächsten Monat seinen Strom oder seine Miete zahlen soll und sich deshalb in einer Mieterinitiative engagiert.

Sie alle sind natürliche Verbündete linker Politik. Und wir brauchen sie auch alle, um die Kräfteverhältnisse so verändern zu können, dass linke EU-Institutionen-Kritik nicht wirkungslos verklingt, sondern reale Änderungen nach sich zieht. Die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen bedeutet zuerst, die Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten zu verändern. Das wird nur durch internationale Solidarität gelingen. Wir brauchen sie alle, um den Appell nach Solidarität nicht unbeantwortet zu lassen.

Daraus resultierend werde ich meine Parlamentsarbeit so ausüben, dass die Kritik an den herrschenden Verhältnissen zusammenkommt mit dem Aufzeigen solidarischer und internationaler Alternativen. Der Wirtschafts- und Währungsausschuss bietet dafür mit der Behandlung der Zukunft der Eurozone und der sogenannten Bankenunion, oder der Panama-Papers sowie bald der Paradise- Papers den geeigneten Rahmen.